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Deutsch als Fremdsprache

Interview mit Gerhard Ruiss

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Literatur und Fremdsprachenunterricht

 

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Hans Pfeiffer:

Herr Ruiss, „nicht-muttersprachliche Literatur­vermittlung ist sehr schwierig, aber zugleich hat sie einen besonderen, eigenen Reiz“. 1 Das ist ein Satz von Ihnen, den Sie gesprochen haben im Rahmen einer Enquete mit dem Titel Lies keine Oden, lies die Fahrpläne? 2 – da ging's um Literatur im Unterricht.

Nicht-muttersprachliche Literatur­vermittlung, Literatur im Fremdsprachen­unterricht, Literatur im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht: Haben Sie besondere Erfahrungen damit? Und worin besteht dieser besondere, eigene Reiz?

 

Gerhard Ruiss:

Der eigene Reiz daran besteht, dass es ja keine wirklich absolute Deckung des Original­sprachlichen gibt mit einer übersetzten Form. Man kann immer nur auf die Suche gehen nach Äquivalenten, also nach Parallelen, nach sprachlichen, und meine Erfahrungen beruhen darauf, dass ich aus dem Mittelhochdeutschen einen Lyriker übersetzt habe sieben Jahre lang, oder nachgedichtet habe, also aus einer gestorbenen Sprache, aus einer toten Sprache in eine lebende Sprache; innerhalb der Sprache oder von einem Dialekt in einen anderen Dialekt, von einem sehr ausdrucksstarken Dialekt wie dem Berndeutschen in den Wiener Dialekt, das ist eine Vorerfahrung gewesen – oder auch eine Vorerfahrung war, dass ich .. mein ... Die erste Fremdsprache meines Lebens, ich rede von einer Zeit, in der die Sprachräume noch sehr streng voneinander abgegrenzt waren, auch innerhalb der eigenen Sprache, meine erste Fremdsprache meines Lebens war das Wienerische. Ich hab' mit zehn Jahren umlernen müssen aus einem niederöster­reichischen Dialekt, der n.ö-Mundart, auf ein Wienerisch. Das war eine völlig andere Sprache in einem anderen Tempo, mit anderen Sprachbildern, mit anderen Assoziationen, mit einem anderen Satzbau und genau das ist das Faszinierende, man kann … oder auch mit einem anderen Sprachklang. Also man kann ganz, ganz viel über – jenseits der Sprachinhalte, der reinen Sprachinhalte Kommunikation erzeugen oder Menschen vor allem emotional erreichen, indem man halt auf den Klang zu hören beginnt.

 

Hans Pfeiffer:

Und dann – sehr schön kommt ja oft auch die Doppeldeutigkeit, Mehrdeutigkeit von Wörtern heraus in Ihren Gedichten. Ich hab' hier zum Beispiel das Gedicht

aggressionsschutz 3

der mensch
hat zum angreifen hände
wen
was
helfende
streichelnde
heilende.

Da denkt man sofort, wenn man „Aggressionsschutz“ hört, an „angreifen“ im Sinne von „attackieren“, hat aber auch die Bedeutung „berühren“, und das kann man natürlich schön herausarbeiten im Unterricht.

 

Gerhard Ruiss:

Das ist ja das Spannende an einer Sprache, dass man sich in sie vertiefen kann. Ich glaub' gar nicht, dass man eine Sprache je können kann, aber man kann ihr sozusagen – man kann ihr … man kann ihr auf den Grund gehen, man kann die Bedeutung von Wörtern untersuchen, von Wortkombinationen untersuchen und man kann mit Sprache kreativ umgehen, also nicht nur sozusagen einen nützlichen Umgang mit ihr haben und einen sehr reduzierten nützlichen Umgang, sondern man kann auch einen gestalterischen Umgang mit ihr haben, und das ist das Faszinierende und vor allem, meine Erfahrung ist, wenn's um Lyrik geht, dann haben wir ja nicht nur eine zweite Bedeutungsebene oft, sondern eine dritte, vierte, fünfte, das heißt, manches Mal erschließt sich ein Gedicht emotional ganz schnell, man spürt es und man versteht das Gedicht noch gar nicht richtig. Und dann erst im Nachhaken – mir ist das oft so gegangen, ich hab' Gedichte gelesen und hab' mir gedacht na bumm, ich war völlig fasziniert, wie erschlagen von einem Gedicht, von der Wucht dieses ersten Eindrucks und dann erst haben sozusagen meine Motoren zu arbeiten begonnen: Was heißt denn das alles wirklich? Und dann gibt’s natürlich die Phasen der Verunsicherung: Ist das überhaupt – kann man das überhaupt so verstehen? Und dann beginnt man das sozusagen auch intellektuell zu erfassen. Also, Sprache ist etwas unglaublich Lebendiges und das ist das, was einem an Sprache auch faszinieren kann, man sollte sich halt nur nicht davor abschrecken lassen, dass die Sprache – und vor allem eine Sprache, die einem nicht geläufig ist – natürlich in einer unglaublichen Übermacht gegenüber einem ist, aber das Spannende ist ja: Man kann in diese Sprache hineinwachsen und es gibt ja auch Menschen, die sagen, sie sprechen mehrere Sprachen, aber sie träumen nur in einer, in einer ganz bestimmten. Das heißt, man hat dann – also – ganz bestimmte Sektoren. Mit geht’s so: Ich kann ganz schlecht Englisch, aber ich träume öfter Englisch interessanterweise.

 

Hans Pfeiffer:

Ich möchte vielleicht noch als ein Beispiel das Gedicht anschlusssorgen 4 zitieren:

stecker herausgezogen
anschluss verloren
zug versäumt
anschluss nicht bekommen
gerät nicht gekauft
nicht in betrieb genommen
anschluss verpasst
sitzengeblieben
keinen anschluss gekriegt
oder gehabt.

Da kann man natürlich mit dem Wort „Anschluss“, wo ja die historische Bedeutung – der Anschluss Österreichs an Deutschland 5 – hier noch gar nicht beachtet wird ... aber man kann mit diesem Gedicht, mit diesem einen Wort kann man eigentlich eine Doppelstunde als Lehrender organisieren.

 

Gerhard Ruiss:

Vielleicht auch sogar bei manchen Gedichten, nicht bei allen, aber vielleicht bei gar nicht so wenigen auch die ganze Welt erklären anhand eines Wortes, ja, weil – dieses „Anschluss“ kann unglaublich Vieles heißen, natürlich auch politisch, aber es kann auch den Anschluss heißen an eine Gruppe: Ich hab' … ich bin hier … keine Kontakte, ich bin isoliert – also, es kann genauso gut heißen: Ich hab' die Entwicklungen verpasst oder versäumt oder … und das alles sozusagen sich durchzudenken, was … das kann eben heißen: „Ich in der Welt“, dieses Gedicht, und … ja, wo gehör' ich hin? Und dass Gedichte zugleich auch das offenlassen können und sich fortsetzen können im Leser, in der Leserin, im Hörer, in der Hörerin – das ist ja das Faszinierende, das sind für mich auch so kleine – ja, wie soll ich sagen – so Weltdramen – auf wenigen Zeilen, nicht, und die dramatische Form des Gedichts ist für mich auch ganz wichtig. Ich glaub', dass Gedichte eine dramatische Form sind.


1 Werner Michler / Gerhard Ruiss (hrsg.): Lies keine Oden. lies die Fahrpläne? Enquete zum Stellenwert der Literatur im Unterricht und in der Ausbildung in Österreich. Praesens Verlag 2020, Seite 81

2 Der Titel geht auf ein Gedicht von Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 1957 zurück. Der Anfang lautet: lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne: / sie sind genauer

3 Gerhard Ruiss: lieber, liebste, liebes, liebstes. andichtungen. Literaturedition Niederösterreich 2021, Seite 10

4 Gerhard Ruiss: lieber, liebste, liebes, liebstes. andichtungen. Literaturedition Niederösterreich 2021, Seite 15

5 Im März 1938 marschierten deutsche Truppen in Österreich ein, das Land verlor seine staatliche Unabhängigkeit und blieb bis 1945 Teil des nationalsozialistischen Deutschen Reiches

 

 

 

Impressum  Letzte Änderung:  So., 7. Jan. 2024

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