Deutsch als Fremdsprache
„Das Beste, was das Internet hervorgebracht hat“ – so betitelt Gregor Kucera seinen Artikel, der anlässlich des zwanzigjährigen Geburtstags der weltweiten Online-Enzyklopedie Wikipedia in der Wiener Zeitung erschien. Vielleicht sind es nur – wie im Artikel ironisch zu lesen steht – „böse Zungen“, die eine solche Behauptung aufstellen, aber niemand kann bestreiten, dass das Projekt zur Schaffung einer gemeinsamen Wissensbasis eine Vielfalt an enzyklopädischen Daten hervorgebracht hat, wie sie sonst nirgends im Internet zu finden ist (Eine Liste von Online-Enzyklopädien – teils kostenfrei, teils über Abonnement zugänglich – findet sich übrigens auf Wikipedia).
Laut Wikipedia waren es Ende 2020 mehr als 55 Millionen Artikel in ungefähr 300 Sprachen, die interessierten Nutzerinnen und Nutzern weltweit zur Verfügung standen. Aber mehr noch als der quantitative Aspekt zählt vielleicht die Tatsache, dass dieses Wissen interessierten Nutzerinnen und Nutzern nicht nur weltweit zur Verfügung steht, sondern dass sie es sind, die diesen Wissensschatz zusammentragen.
„Einer der Hauptvorteile von Wikipedia ist es, dass sie die Ex-Cathedra-Idee des Wissens aufhebt, also, dass Wissen in den Händen einer kleinen Elite liegt“, erklärt der britisch-amerikanische Autor und Journalist Simon Winchester in einer sehenswerten Dokumentation über Wikipedia, die vom französisch-deutschen Fernsehsender ARTE ausgestrahlt und dort in der Mediathek noch bis 4. April 2021 abrufbar ist: Das Wikipedia Versprechen - 20 Jahre Wissen für alle? (Ein weitere Möglichkeit, die Sendung zu sehen, gibt es im ARTE-Kanal auf Youtube: Das Wikipedia Versprechen | Doku | ARTE). „Man sagt schließlich: Wissen ist Macht“, erklärt Simon Winchester weiter. „Wikipedia ist demokratisiertes Wissen“.
Jeder kann auf Wikipedia Texte schreiben oder die Texte anderer abändern, auch ganz anonym. Der Einstieg ist einfach, die Kriterien für das Anlegen eines neuen Artikels werden auf der Seite Hilfe: Neuen Artikel anlegen einfach und klar verständlich dargestellt.
Die akademische Welt reagiert zunächst skeptisch auf Wikipedia. An vielen Fakultäten galt das Verbot, in wissenschaftliche Arbeiten Zitate aus Wikipedia anzuführen. Dass aber auch traditionelle Enzyklopädien nicht immer „der Weisheit letzter Schluss“ sind, zeigt Simon Winchester eindrucksvoll am Beispiel der elften Ausgabe der Encyclopædia Britannica, die noch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg als das wissenschaftliche Referenzwerk par excellence galt. Der Eintrag mit dem Titel „Negro“ beginnt – unter Berufung auf lange Studien an amerikanischen „Negern“ – mit der „allgemeingültigen Erkenntnis“ der geistigen Unterlegenheit der ganzen „Rasse“ gegenüber den Weißen.
Dass sich gerade Wikipedia heute mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, nicht „das Wissen der Welt“ zu repräsentieren, sondern männlich dominierte, westliche Kultur („In der Wikipedia handeln circa 80 Prozent der Biographien von weißen Männern“), zeigt, wie lebendig die Diskussion um die digitale Plattform nach wie vor ist. Dass die Enzyklopädie „heute fast konservativ wirkt im Vergleich zu vielem, was seitdem entstanden ist“, hat auch damit zu tun, dass sich die Gemeinschaft der Wikipedianer – also alle, die Artikel lesen, verfassen oder an deren Verwaltung mitarbeiten – zunehmend vor manipulativen Eingriffen schützen müssen: vor bezahlten Werbeauftritten ebenso wie vor Streichungen unliebsamer Tatsachen durch Regierungen oder Privatfirmen. Manchmal sind es auch notorische Spaßvögel, die die Seriosität der Enzyklopädie gefährlich in Verruf bringen.
Das hat dazu geführt, dass die Kontrollkriterien immer strenger, die Zugangsbedingungen immer schwieriger, die Community immer unduldsamer wurde gegenüber allen, die sich nicht an die Regeln halten (Wikipedia: Was Wikipedia nicht ist)– fast wie im traditionellen Wissenschaftsbetrieb: „Heute ist einer der Hauptkritikpunkte an Wikipedia, dass sie der traditionellen Wissenschaft so ähnlich ist“, erklärt Katherine Maher, Geschäftsführerin der Wikimedia Foundation in San Francisco. „Denn historisch gesehen war die Wissenschaft, die Forschung und die Welt der Wissensproduktion immer voreingenommen und ausgrenzend. Und jetzt ist Wikipedia das auch“.
Und dennoch: Rund um die Enzyklopädie haben sich weitere Projekte entwickelt, wo sich wieder alle als Autoren betätigen können: Wikinews für aktuelle Nachrichten, Wikibooks für Lehr-, Sach- und Fachbücher, Wikivoyage für Reiseberichte, Wikiquote für Zitate, Wikisource als Sammlung von urheberrechtsfreien Texten, Wikimedia Commons als freie Sammlung von Bildern, Video- und Audiodateien, Wictionary als Wörterbuch.
Im Jahr 2004 wurde von einem Wiener mit dem Pseudonym David Uebel eine parodistische Version von Wikipedia ins Leben gerufen. Sie konnte sich allerdings nicht halten und wurde 2018 wieder eingestellt – aus Gründen, die man auf der Wikipedia-Seite Stupidedia nachlesen kann.
Impressum Letzte Änderung: Di., 17. Jan. 2023
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