Deutsch als Fremdsprache
Der Anfall kam, als sie, nur in ein Handtuch gehüllt, aus der Dusche trat. Sie dachte gerade daran, dass sie unbedingt den Boden aufwaschen müsse. Nicht, dass der Boden schmutzig gewesen wäre. Aber seit sie im Gefängnis gewesen war, musste alles immer penibel sauber sein. Seit sie im Gefängnis gewesen war, konnte sie Schmutz nicht mehr in Kauf nehmen. Seit sie im Gefängnis gewesen war, litt sie unter Lärm, Blicken, schlagenden Türen, Flüstern. Vor allem aber ertrug sie die Nähe anderer Menschen nicht mehr. Ihr Atmen. Ihre Ausdünstungen. Seit sie im Gefängnis gewesen war, hatte sich vieles verändert.
Der Anfall kam ohne Vorwarnung. Ohne Vorboten. Ohne vorhergehende Übelkeit. Ohne vorankündigende Sehstörungen. Von einer Sekunde zur anderen explodierte etwas mitten hinein in ihr Gesicht. Es blähte sich auf in ihrem Kopf. Es füllte ihn ganz und gar mit Schmerz. Dass ihr die Knie wegsackten, nahm sie schon nicht mehr wahr. Alles, was sie wahrnahm, war eine leuchtend rote Wolke, die wie eine Naturgewalt auf sie zurollte.
Dann kam die Dunkelheit.
Dann kam die Angst.
Als der Anfall vorüber war, versuchte Afarin herauszufinden, was eigentlich mit ihr geschehen sei. Sie dachte über die Angst nach, die sie empfunden hatte. Die Angst, kam es ihr vor, war ein Paradoxon aus völliger, abgrundtiefer Dunkelheit und blendend hellem Licht gewesen. Licht und Dunkelheit waren in ihrem Kopf aufeinandergeprallt. Zwei Urkräfte, die sich in grellen, sich überschlagenden Tönen aneinander gerieben hatten. Helligkeit und Schwärze schienen gleichsam um die Vorherrschaft gekämpft zu haben – mitten in ihrem Kopf. Sie selbst war gleichsam nur das Schlachtfeld gewesen. Die Schlacht hatte damit geendet, dass sich Dunkelheit und Licht gegenseitig aufgefressen hatten. Afarin war dazwischen zerrieben worden. Zierrieben. Zerquetscht. Zermalmt.
Danach war nichts mehr übriggeblieben. Nur reine, unverfälschte Angst. Die Angst hatte nach Ozon gerochen, als hätte sich eine Explosion ereignet. Die Angst hatte einen metallischen Geschmack in ihrem Mund hinterlassen, wie Blut. Die Angst hatte ihr jedes Gefühl genommen, bis sie körperlos durch ein Vakuum zu schweben schien. Sie hatte alles ausgelöscht – alles außer der Angst.
Um ihr zu entkommen, hatte es nur einen Weg gegeben – einen dunklen, engen Schacht, durch den grelle Lichtblitze jagten. Der Schacht war so eng gewesen, dass Afarin nur mit nach oben gerissenen Armen hineinpasste und sich kaum bewegen konnte. Aber sie musste sich bewegen! Sie musste sich unbedingt bewegen, wollte sie der Angst entkommen. Aber mit jeder Bewegung hatte sich der Schacht enger zusammengezogen. Wie ein Schlauch hatte er sich um ihre Brust gelegt. Um ihren Bauch. Um ihre Schenkel. Ihr Kopf wie von Schraubzwingen zusammengepresst worden. Sie war außerstande gewesen zu schreien. Denn es hatte keine Luft in diesem Schacht gegeben. Alle Luft war aus ihm herausgesogen worden.
Als der Anfall vorüber war, fragte sich Afarin, warum sie nicht einfach aufgegeben habe. Warum sie nicht einfach aufgehört habe, sich zu wehren. Warum sie nicht imstande gewesen sei, sich ins Unvermeidliche zu fügen. Warum sie das Unvermeidliche nicht zu akzeptieren vermocht habe. Denn ihr war zu jedem Moment ihres Anfalls klar gewesen, dass sie dieser Urgewalt nicht gewachsen war. Aber offenbar gab es in ihrem dummen, alten Kopf einen Mechanismus, der nicht zuließ, dass sie sich fügte. Vielleicht war da irgendwo auch die vage Hoffnung gewesen, am Ende des Schachtes, am Ende dieses schwarzen, engen Schlauchs, der sie immer weiter zusammenpresste, wäre ein Licht. Eine Erlösung. Ein Ausweg.
Aber im Grunde hatte sie von Anfang an gewusst, dass am Ende des Schachtes nichts von alledem sein würde. Im Grunde hatte sie von Anfang an gewusst, dass am Ende des Schachtes gar nichts sein würde.
Und dennoch hatte sie nicht davon ablassen können, diesem Ende zuzustreben. Sie hatte nicht aufhören können, sich auf dieses Licht zuzubewegen. Mit jeder Faser ihres Körpers hatte sie versucht, dem Licht näher zu kommen. Mit den minimalen Bewegungen, die der Schlauch gerade noch zuließ, hatte sie ihre ganze Kraft, ihren ganzen Mut mobilisiert, um das Licht zu erreichen. Wenn es ihr gelänge, hatte sie sich eingeredet, wäre sie gerettet. Nach diesem Prinzip schien der dumme, alte Mechanismus in ihrem Kopf zu funktionieren. Daran hatte sie sich bis zuletzt verzweifelt geklammert.
Aber während sie um Luft gerungen und sich gewunden und sich vorwärtszuziehen versucht hatte, hatte sie entdeckt, dass sie sich tatsächlich rückwärts bewegte. Dass sie nach hinten gezogen wurde. Dass das Licht kleiner wurde statt größer. Nur noch wenige Augenblicke – und es würde ganz verlöschen.
Erst da war ihr Widerstand erlahmt. Erst in diesem Moment hatte sie der letzte Rest ihrer Kraft verlassen. Sie war in ein schwarzes, kaltes Meer gesunken. Schweres, schwarzes, kaltes Wasser hatte sich auf ihre Brust gelegt. Auf ihren Bauch. Auf ihre Beine. Auf ihren Mund. Sie war gesunken. Tief. Tiefer. Endlos. Kein Laut war mehr zu hören gewesen, nur das Rauschen ihres Blutes. Das Rauschen des schweren, schwarzen Wassers.
Schließlich hatte es keinen Ausweg mehr gegeben. Schließlich war nur noch dieses eine Verlangen geblieben: zu atmen. Schließlich hatte sie diesem Verlangen nachgegeben. Und alles war erloschen. Das schwere, schwarze Wasser war erloschen. Die Lichter, die sie darin gesehen hatte, waren erloschen. Der Schlauch, der sie zusammenpresste, erlosch.
Sogar der Schmerz erlosch. Alles. Auch sie selbst.
Impressum Letzte Änderung: So., 13. Apr. 2025